Günther Rabl
THRENODY FOR NO PARTICULAR REASON
music for multidimensional contemplation
computermusic, 2-10 channels, Heumühle 2011/2012
vol.1 ~120 days
vol.2 ~200 days
Kurzbeschreibung
Im Winter 2010/11 habe ich, aufbauend auf jahrelangen Vorarbeiten, einen
Generator entwickelt, der ganzheitliche mehrdimensionale Wellen erzeugt.
Mehrere solcher Generatoren sind zu einer Art Orgel kombiniert, wobei
die Basis jeweils die Varianten eines Magischen Quadrates sind, aus
denen sowohl der Klang selbst, als auch die zeitliche Abfolge abgeleitet
sind.
Der Klangtypus ist in den meisten Fällen stringent, aber schräg.
Seltsamerweise bilden die Varianten in 5 und in 10 Dimensionen eine
Ausnahme: Ihr Duktus ist 'human', möchte ich sagen. Stellenweise
erinnern die Entwicklungen an bekannte Akkordfolgen, obwohl keinerlei
Tonsystem vorgegeben ist und das analytische Hören jede Menge Mikrointervalle
entdecken kann.
Auf dieser Grundlage habe ich bislang zwei Stücke konzipiert: das
eine in gleichmässigen orgelartigen Akkordfolgen; das ander unregelmässig,
dennoch ruhig, an Klangschalen erinnernd.
Ein vollständiger Zyklus davon (ohne Wiederholungen) würde
120 bzw. 200 Tage dauern. Kleinere Zyklen davon sind leicht herauslösbar,
im Zeitrahmen von einer Woche oder einer Stunde.
Von der Darbietung her ist das meditative, ich sage lieber 'kontemplative'
Musik.
Threnody (Klagelied) verweist auf eine archaische Form. (Mit 'beklagen',
'jammern' oder 'hadern' hat das nichts zu tun). Meine Arbeit an den
ersten Skizzen davon fiel in die Zeit von Fukushima und den Beginn der
nordafrikanischen Unruhen. Dennoch hat dieses Klagelied nicht unmittelbar
damit zu tun - zumindest nicht vorsätzlich.
Vorgeschichte
Anfang der Achzigerjahre habe ich begonnen, mich mit Bewegung, namentlich
Rotation, im mehrdimensionalen Gefüge
zu beschäftigen und die mathematischen Grundlagen dafür
zu entwickeln. (Man sollte meinen, dass das alles schon erforscht ist.
Theoretisch ja - die praktische Anwendung davon ist aber ein eigenes
Kapitel).
In der Folge sind drei konzeptuelle Etuden entstanden: GEOMETRISCHE
ETUDE (eine Art multidimensionale Spieluhr), THE EYE (ein Facettenauge
in Raum und Zeit als Grundlage für fotografische Darstellung eines
Areals), STOXH (ein Automat, der beliebige Aussenaufnahmen verarbeitet
und in Raum und Zeit neu ordnet).
Das alles ist Vorarbeit für das vorliegende Projekt.
Magisches Quadrat und Rotationsmatrix
Was ein 'magisches Quadrat' ist, darf ich als bekannt voraussetzen.
Die Zahlen von 1 bis n2 sind in einem Quadrat n*n so angeordnet, dass
die Summen aller Zeilen und die Summen aller Spalten gleich sind, dazu
noch die Summen der Diagonalen. Die Bildungsgesetze solcher Zahlenanordnungen
habe ich bei Gelegenheit selber herausgefunden. (Heute findet man sie
auf diversen Internetseiten, damals gab es soetwas nicht und die alten
Bücher enthielten vielfach gemogelte Lösungen - vor allem
für die höheren
Quadrate ab 6*6).
Natürlich wurden den
Magischen Quadraten, wie die Bezeichnung schon sagt, gerne magische
Eigenschaften zugeschrieben, sie dienten für
Beschwörungen
und für Amulette,
oder einfach für
die Knobelecke. Was mich hingegen von Anfang an fasziniert hat, ist
eine kleine Ähnlichkeit
des magischen Quadrates mit den Eigenschaften einer Rotationsmatrix,
sodass man fast spekulieren möchte,
das MQ sei eine degenerierte, mystifizierte Form einer Rotationsmatrix,
wie sie älteren Kulturen bekannt gewesen sein könnte.
In einer Rotationsmatrix beliebiger Ordnung muss unter anderem die Summe
der Quadrate aller Zeilenelemente und aller Spaltenelemente gleich 1
sein. Darüberhinaus muss noch das Vektorprodukt jeder Zeile mit
jeder anderen Zeile sowie jeder Spalte mit jeder anderen Spalte 0 sein.
Mehrdimensionale Phasoren
Längere Zeit hatte ich mich damit nicht beschäftigt. Im Winter
2010/11 musste ich meine musikalischen Arbeiten unterbrechen, weil sich
Verhandlungen über eine Aufführung in die Länge zogen.
Ich nutzte die Zeit, um mich wiedereinmal dem Thema zuzuwenden und kam
zu erstaunlichen Ergebnissen.
Mittels Orthonormierung lässt sich ein Magisches Quadrat jeder
beliebigen Dimension leicht in eine entsprechende Rotationsmatrix umformen.
Das ist dann ein Operator mit dem man einen Vektor, oder einen Körper
(eine Gruppe von Vektoren) im Raum drehen kann, ein 'phasor'. Unterteilt
man so eine Drehung in viele kleine Schritte (eine Wurzel der Matrix,
die man über deren Eigensystem finden kann), dann kann man die
Bewegung eines jeden Punktes als mehrdimensionale räumliche Bahn
oder Wellenform verfolgen.
Im trivialen Fall von 2 Dimensionen ist das immer eine
Kreisbewegung um den Mittelpunkt.
Bei 3 Dimensionen sind es ebenfalls Kreise um eine
irgendwie im Raum liegende Rotationsachse.
Ab 4 Dimensionen sind es mehr oder weniger komplizierte
Wellenformen im Raum. Dreht man einen Einheitsvektor auf diese Weise,
dann beschreibt er eine Bahn auf der 'Oberfläche' (ein gekrümmter
Teilraum) einer Hypersphäre deren Abstand vom Mittelpunkt immer
gleich 1 ist.
Hier ein paar grafische Beispiele der Projektion solcher Bahnen auf
jeweils zwei Dimensionen
4-dimensional
5-dimensional
6-dimensional
8-dimensional
10-dimensional
Ist die Drehung schnell genug, dann lässt sich die auf eine Dimension
projizierte Bwegung über einen Lautsprecher als Schallwelle ausgeben
und anhören - bzw. über soviele Lautsprecher, als die Bewegung
Dimensionen hat.
Dabei zeigt sich, dass es jeweils nur einige wenige Sinustöne sind,
die dabei mit unterschiedlicher Präsenz in den verschiedenen Dimensionen
bizarre Gemische bilden. Genaugenommen sind es immer n/2 Teiltöne,
bzw. (n-1)/2 bei den ungeraden Matrizen.
Der Generator
Auf den ersten Blick scheint es absurd, für eine Handvoll Sinustöne
so einen rechnerischen Aufwand zu betreiben. Immerhin benötigt
man pro Sekunde zig-Millionen, gelegentlich sogar complexe Rechenoperationen
dafür.
Das eigentlich Faszinierende sind aber die Akkorde, die dabei entstehen.
Es ist kein wie immer geartetes Tonsystem vorgegeben, die Töne
fügen sich in keine bekannte Ordnung. Dennoch kann man sie verstehen,
kann ihre seltsame Stringenz nachvollziehen.
Der Aufbau so eines Generators ist, wie oben beschrieben: Aus dem Schema
eines Magischen Quadrates wird eine Rotationsmatrix abgeleitet. Ein
multidimensionaler Phasor, der einzig und allein für die stetige
Entwicklung der Wellenformen verantwortlich ist. Ausser der Stammform
eines MQ's gibt es aber noch Varianten von Zahlenanordnungen, die ebenfalls
den Bedingungen eines MQ's genügen. Eine geschlossene Gruppe davon
lässt sich auf n! (Fakultät) zusammenfassen. Das sind 24 bei
4 Dimensionen, 120 bei 5, ca. 3.5 Millionen bei 10 Dimensionen. Diese
Varianten sind durch systematische Permutation erfassbar und somit für
den Generator verfügbar. Jede Variante steht für eine eingenständige,
ganzheitliche, mehrdimensionale Wellenbewegung; bildet einen eigentümlichen
Akkord.
Die Orgel
Aus mehreren solchen Generatoren, von denen jeder für sich bereits
einen als Akkord wahrnehmbaren Klang produziert, habe ich eine Art Orgel
zusammengesetzt. Durchaus in Anlehnung an den Aufbau einer gewöhnlichen
elektronischen Orgel. Ein Generator ist mehr für den Dauerklang
verantwortlich, einer für den Anschlag, einer für den Ausklang,
für Vibrato oder Modulation. Sie können gleich eingestellt
sein, oder bloss vom selben Stamm sein, oder auch in unterschiedlichen
Dimensionen. In jedem Fall sind das mehrdimensionale Modulationen und
Automodulationen. Es besteht auch die Möglichkeit, in den Kern
einer Matrix selber (Eigensystem) einzugreifen, diesen zu verändern
oder zu modulieren.
Das Klagelied
Viele Wochen habe ich damit zugebracht, den Charakter der verschiedenen
Varianten in unterschiedlicher Dimension kennenzulerenen. Die einfacheren
bis zu 18 Dimensionen, darüberhinaus einige Stichproben bis hin
zu Grössenordnungen von 100 Dimensionen und darüber. Vieles
klingt bekannt, manches dagegen wie 'Musik von einem anderen Stern'.
Besonders herausragend sind Generatoren mit 5 und 10 Dimensionen. Ihre
Akkordfolgen klingen sehr vertraut, erinnern an Bach, manchmal auch
an Schubert oder Satie - wenn man sich dem Klang hingibt. Und das, obwohl
- wie schon eingangs erwähnt - kein Tonsystem bedient wird und
das analytische Hören Mikrointervalle und unorthodoxe Tonkombinationen
heraushören kann.
'Stimmig' - ein besseres Wort fällt mir dazu nicht ein. Auf mich
wirkt es ganz so, als hätten die alten Meister diese Tonfolgen
gekannt, innerlich gehört und mit ihren Mitteln dargestellt, so
wie auch ich sie erkenne und mit meinen Mitteln herausholen kann.
Ich konzentrierte mich somit auf die Matrix 10*10.
Wie aber geht man mit so einem Material um ?
Nach einigen virtuosen Versuchen war es für mich klar, dass man
diesen Klängen ihren eigenen Lauf lassen muss. In der Matrix liegt
eine Fülle von zusätzlichen Daten verborgen, die sich für
die Gestaltung des zeitlichen Verlaufes nutzen lassen. Letztlich kam
ich zu einer langsamen, ruhigen Entwicklung von Akkordfolgen durch eine
fortwährende Vertauschung von jeweils nur zwei Zeilen und zwei
Spalten in dem zugrundeliegenden MQ. Und damit ergab sich auch die Grössenordnung:
Ein vollständiger Zyklus, ohne Wiederholung, dauert auf diese Weise
100 bis 200 Tage! - eine 'Kurzfassung', ein kleinerer geschlossener
Zyklus, 1 bis 2 Wochen.
Selbstverständlich kann eine so grosse Form weder dramtisch noch
episch sein. Eine Elgie bestenfalls, ein 'Klagelied' - ohne besonderen
Anlass. Der ruhige, gleichmässige, fast versöhnliche Duktus
der Akkordfolgen trägt noch das seine dazu bei.
Installation
Zur Zeit habe ich zwei Varianten davon vom Datenmaterial her fertig.
(Hörbare Stichproben daraus können jederzeit präsentiert
werden). Die eine besteht aus den besagten ruhigen Akkordfolgen; die
andere aus unregelmässigen Ausklängen mit dem Charakter von
Klangschalen. (Auch dabei wieder keine zwei gleichen Klänge). Eine
dritte und vierte Variante ist in Arbeit. Bis Herbst 2012 könnten
vier bis fünf charakterlich sehr unterschiedliche Variationen fertig
sein: eine grosse, begehbare Klanginstallation für mehrere getrennte
Räume, durchgehend über ein bis zwei Wochen.
G.R.