ELECTRIC OPRPHEUS ACADEMY
SPILLING THE BEANS #19 NOISE
Wen die Faszination des Rauschens einmal gepackt hat, den lässt sie nicht mehr so leicht los. Tatsächlich ist Rauschen der reichhaltigste und schönste Klangtypus überhaupt. Auch andere Klangtypen wären ohne einen bestimmten Anteil von Rauschen arm. Man stelle sich bloss einen Flötenton ohne Luftgeräusch, einen Geigenton ohne Bogenrauschen vor! (Da könnte man gleich Dreiecks- und Sägezahnschwingungen nehmen).
In beinahe allen meinen Stücken habe ich mich mehr oder weniger mit Rauschen auseinandergesetzt. Am konsequentesten vielleicht in KATHARSIS, worin das Tosen eines Wasserfalles nicht nur als Klangmaterial fungiert, sondern auch die musikalischen Formen aus dessen Mikrostruktur abgeleitet sind (Werke 8, ccr408).
Weisses Rauschen
Gleich der erste Fall, mit dem wir uns hier beschäftigen, scheint der Einleitung zu widersprechen. Weisses Rauschen ist vielleicht nicht unschön, aber es ist charakterlos. So charakterlos wie eine Sinusschwingung oder ein Diracimpuls. Wollte man den 'Raum' aller möglichen Klänge in einem Symbol darstellen, dann könnte man dazu ein Dreieck wählen: Eine Ecke symbolisiert den idealen Impuls, die zweite eine ideale Sinusschwingung, die dritte ideales Weißes Rauschen.
(die Übergangsbereiche sind auch nur symbolisch zu verstehen, so könnte statt 'noise wavelets' genausogut auch 'impulse series' stehen)
Der Impuls enthält alle möglichen Frequenzen, sie erscheinen aber nur zu einem Zeitpunkt.
Der Sinuston besteht nur aus einer Frequenz, diese ist aber in jedem Zeitpunkt wirksam.
Weisses Rauschen enthält alle nur möglichen Frequenzen, zu jedem Zeitpunkt präsent.
Digital erzeugt man Weißes Rauschen durch Serien von Random-Zahlen zwischen -1 und +1, wie sie mittlerweile jede Computersprache als Funktion anbietet. Wir sprechen hier von 'random', nicht von 'Zufall' in einem fatalistischen Sinne. Es ist keine Schicksalhaftigkeit damit verbunden. Eine perfekte random-Serie ist vermeidend definiert: sie darf keinerlei Gesetzmässigkeit aufweisen und keine Perioden hervorheben.
Generieren wir einmal so eine random-Serie (noise.x in VASP, Weisses Rauschen im linken Kanal). Wie es klingt, brauche ich wohl nicht vorzuführen.
Im Zoom (auf sample-Ebene) sehen die ersten 768 samples so aus:
im Spektrum die ersten 768 samples:
oder das gesamte Spektrum in logarithmischer Darstellung:
So eine logarithmische Darstellung ist auf einer Seite übergenau, auf der anderen durchschnittlich. Links repräsentiert die kantige Line wirkliche einzelne samples; rechts hunderte oder tausende von Samples. Normalerweise nimmt man die Maximalamplitude einer Gruppe - das ist die schwarze Linie. Die rote Linie markiert die Minimalamplitude der Gruppen. Wäre es ein ideales Rauschen, dann wären beide identisch und zwar so neutral, wie die grüne Line.
Generieren wir das Rauschen complex, dann können wir die Forderung, dass die Amplitude in jedem Moment konstant ist, in jeder Ebene stellen. Gleichermaßen in beiden Ebenen, geht nicht: Denn entweder, es hat jeder Zeitpunkt genormte Einheitsamplitude, dann ist halt das Spektrum nur so ungefähr; oder es haben alle Frequenzen dieselbe Amplitude, dann ist der zeitliche Verlauf nur so ungefähr. Gehörsmässig klingt das eine etwas seidiger, das andere etwas kratziger (kann man sich zumindest einbilden).
Ideales Weisses Rauschen
Für ideales Weißes Rauschen müßte gelten, dass es sowohl in der Zeitebene in jedem Moment gleiche Amplitude hat, als auch im Spektrum für jede Frequenz. Sollten somit zeitlicher Verlauf und spektraler Verlauf überhaupt identisch sein ? Gibt es so ein ideales Weißes Rauschen überhaupt ? - Ich denke ja. Zumindest kann ich ein Verfahren angeben, wie man ihm iterativ näherkommt. Das geht so:
Zunächst erzeugt man das Rauschen durch random-Phasen und mischt dessen Fouriertransformation conjugiert-complex dazu. Letzteres ist eine triviale Methode, einen 'Pivot' zu erzeugen (ein 'Angelpunkt' von Frequenz und Zeit) - eine Klang, der identisch mit seiner eigenen Fouriertransformation ist (conjugiert complex identisch, genaugenommen). Somit sind Zeitverlauf und Spektrum gleich, aber der Amplitudenverlauf ist da wie dort nicht konstant. Im ersten Ansatz beträgt die Ungenauigkeit durchschnittlich 70% !
Nun muss man die Amplituden normieren und den Vorgang wiederholen. Bereits nach 100 Durchgängen liegt die maximale Ungenauigkeit bei 20%, nach 1000 Durchgängen bei 4%, nach 10000 Durchgängen bei 1%.
ucnoise.white
rep 10000 "repeat
pivotize
norm
endrep
view.
(Die Routine pivotize mischt, wie oben beschrieben, die FFT zum Originalklang)
Uns mag das als Beweis genügen. Wir wollen den Mathematikern die Arbeit nicht abnehmen ...
Dieses 'Ideal' gilt allerdings nur für einen bestimmten Zeitausschnitt und eine bestimmte Rasterung (sampling rate). Es lässt sich aber für jeden beliebigen Ausschnitt mit irgendeiner Rasterung definieren.
Was haben wir nun davon ? Gehörsmässig unterscheidet sich das ideale Weisse Rauschen kaum von einem durch einen guten Generator erzeugten. (Ich hab auch verschiedene random-Algorithmen ausprobiert: Sobald man in einer bestimmten Qualitätsliga ist, ist das ziemlich egal, sowohl gehörsmässig als auch funktionell).
Wir haben ganz einfach die Gewissheit, dass es hier einen markanten Punkt im Universum der Klänge gibt, von dem aus sich in alle Richtungen andere Klangtypen systematisieren lassen.
Wendet man zB. Verzerrung an (rdist.spow in VASP), dann gerät man in Bereiche, die sich mit 'Knistern' oder 'Prasseln' beschreiben lassen. (Den Verzerrungsfaktor muss man schon sehr gross nehmen, 500 und mehr).
whitenoise_dist1000.mp3
Dieselbe Verzerrung im Spektrum angewandt führt zu 'Zischen', 'Kratzen', 'Schleifen', etc.
whitenoise_specdist1000.mp3
Extreme Verzerrung, bei der nur mehr das sample mit der grössten Amplitude erhalten bleibt, führen zu den anderen Eckpunkten des oben genannten symbolischen Dreieckes: Impuls und Sinus.
Farbiges Rauschen
Für Rauschen mit einer kontinuierlichen spektralen Tendenz hat sich der Begriff 'colored noise' eingebürgert, vor allem für die zwei wichtigsten:
pink noise - Höhenabfall 3db/Oktave
violet noise - Höhenanstieg 6db/Oktave
dazu noch
red noise - Höhenabfall 6db/Oktave
blue noise - Höhenanstieg 3db/Oktave
In VASP sind sie als Generator colnoise ausgeführt. Der gestattet ausserdem noch:
rosy - ~1.5db/Oktave Abfall
dove (taubengrau) - ~1.5db/Oktave Anstieg
sowie einige andere Varianten mehr.
Hier die Spektren der wichtigsten Varianten:
(schwarz:white, pink:rosy, rot:pink, braun:red, grau:dove, blau:blue, violett:violet)
fm noise
Oben wurde schon complex generiertes Rauschen ins Spiel gebracht, dessen Amplitude (Radius) konstant ist. Das generiert man, indem man nicht random-Amplituden zwischen -1 und +1 in Serie setzt, sondern random-Phasen zwischen 0 und 2p (360°). Analog gedacht wäre das eine Frequenzmodulation eines complexen Sinusgenerators durch weisses Rauschen. In der xy-Darstellung sieht man, wie alle Radien dieselbe Amplitude haben, aber in jeweils verschiedene Richtung zeigen:
ucnoise.white
Moduliert man so einen Sinusgenerator nur geringfügig um eine center-Frequenz, dann erhält man Rauschen, in dem, je nach Modulationsgrad eine Frequenz mehr oder weniger dominiert. Hier ein paar Spektren mit center 344hz:
fmnoise.peak, center=344, width=0,300,600,1200,2400
Ähnlich lässt sich auch lowpass-noise und band-noise erzeugen:
fmnoise.low, cof=100hz,400,1600,3200,6400
Als ich 1982 am EMS Stockholm versuchte mein Projekt ETUDE IN GRAU (damals 'Nebengeräusche') zu realisieren, das nur aus gefiltertem Rauschen besteht, wurde mir eine Lösung durch fm-generiertes Rauschen empfohlen. Das Problem war nur: Spektral hatte man es offensichtlich mit gefiltertem Rauschen zu tun, aber seine zeitliche Erscheinungsform war unruhig und bröckelig. (Ich entschloss mich zu einer anderen Lösung - siehe unten).
Tatsächlich muss man so eine fm-Generierung in Kaskaden durchführen, um ein brauchbares Ergebnis zu erzielen (Man erzeugt ein fm-Rauschen, damit moduliert man wieder einen Sinusgenerator, mit dem Ergebnis wieder, usw. - In AMP und VASP werden dafür standardmässig 6-fache Kaskaden verwendet).
Der grosse Vorteil des fm-generierten Rauschens besteht darin, dass es aufgrund seiner konstanten Amplitude hervorragend zur Modulation von anderem Klangmaterial geeignet ist, aber auch zur Steuerung von beliebigen Parametern. Im Grunde ist es immer ein complexer Sinus, dessen Frequenz permanent verändert wird.
Hier mit einer Bandbreite von 20hz (fmnoise.band 400,420):
spb_bandoise20.mp3
und hier mit 200hz (fmnoise.band 300,500):
spb_bandnoise200.mp3
Für Modulation von Klangmaterial muss dieses, wie so oft, complex aufbereitet sein (HILB oder hilb). Hier das Original - ein kurzer Ausschnitt aus Chieko Mori's 'Jumping Rabbit':
chieko_orig.mp3
Moduliert mit ucnoise 800hz (ucnoise ist das complexe Pendent zu fmnoise, fm-generiertes complexes Rauschen mit Einheitsamplitude und einem lowpass-cutoff bei 880hz):
chieko_noisemod.mp3
So eine Modulation kann man natürlich auch im Spektrum vornehmen. Während bei der Modulation in der Zeitebene die Frequenzen 'verwischt' werden ('blur'), werden bei einer Anwendung in der Frequenzebene die Zeiten verwischt. Es entsteht soetwas wie Nachhall, allerding in beiden Zeitrichtungen:
chieko_specmod.mp3
(Das VASP-Makro REVERB führt so eine spektrale Modulation aus, wobei die Nachhallzeit in Sekunden angegeben werden kann. Wahlweise können auch Modi gewählt werden, in denen sich der Nachhall nur in eine Zeitrichtung ausbreitet).
Nimmt man weisses Rauschen für die Modulation im Spktrum, dann erhält man ein freeze, wie wir es schon von der Funktion phirand (random phase) her kennen.
Zum Abschluss noch eine Biegeschwingung (osc.bar) wobei der Pickup durch band.noise gesteuert wird:
spb19j.mp3
Im letzten Fall ist es kein Rauschen im eigentlichen Sinn mehr, aber doch derselbe Generator, der hier langsame, unregelmässige Wellenbewegungen im Bereich zwischen 0.1Hz und 0.5Hz liefert.
strukturiertes Rauschen
(ein handwerklischer Exkurs)
Stellen wir uns Rauschen vor, das sowohl in der Zeit, als auch im Spektrum eigenständig geformt ist - unter Umständen auch so, dass es sich von dem, was wir noch 'Rauschen' nennen mehr und mehr entfernt.
akueto,
G.R.
(c) Günther Rabl, 2013