Metazeit
Noch Robert Schumann erwartete von einer guten Komposition,
dass sie von vorne nach hinten komponiert sei, also die Abfolge der
kompositorischen Arbeit der Abfolge der fertigen Musik entspreche. Vom
Standpunkt der Arbeitshygiene mag das sinnvoll sein. Rasches Arbeiten ist
vielfach nur so moeglich. Ob sich allerdings alle namhaften Komponisten der
Vergangenheit daran gehalten haben, darf bezweifelt werden. Aus heutiger Sicht
besteht keine Notwendigkeit zu solcher Parallele.
In der Regel ist aber der zeitliche Umfang der
kompositorischen Arbeit wesentlich groesser, als der des fertigen Musikwerkes.
Etwa 3 Wochen fuer 12 Minuten Musik [@1], oder 2 Jahre fuer 7 Minuten [@2],
oder 10 Jahre fuer 100 Minuten [@3].
(Das enspricht Verhaeltnissen von 1:2500 oder 1:90000 oder 1:50000)
Erst durch algorithmische Verfahren in der
Komposition ist dieses Verhaeltnis stark reduzierbar, unter Umstaenden auch
umkehrbar: In wenigen Minuten laesst sich ein Algorithmus formulieren, der fuer
Stunden oder Tage Musik (zumindest Klang) produziert.
Ein Sonderfall scheint diesbezueglich Improvisation
zu sein, insofern man sie als 'spontane Komposition' auffassen kann.
Kompositorische Zeit und musikalische Zeit fallen dabei offensichtlich
zusammen. Allerdings gehoert zu Improvisation eine Reihe von Vorarbeiten. Nicht
nur die Erarbeitung und das Einueben von Elementen, aus denen sich Improvisationen
zusammensetzen koennen, sondern auch der Abbau von erstarrten Formen und
Verhaltensmustern sind metazeitliche Prozesse, ohne die eine freie Improvisation
nicht moeglich ist. [@8]
Typische metazeitliche Prozesse sind Variation und Metamorphose.
Waehrend die Variationen sternfoermig gesehen werden
koennen, von einem Zentrum (Thema) ausgehend in verschiedene Richtungen
[@4 ] [@5], bilden die Metamorphosen eine Art fortgesetzte Kette von Variationen
oder Transformationen . [@6].
Ein weiterer Typus metazeitlicher Prozesse sind alle iterativen
Transformationen , also Transformationen eines Klangmaterials, die sich nur
in kleinen Schritten vollziehen, wobei jeder Schritt wieder einen, vom vorigen
gering abweichenden Klang repraesentiert. Es existiert ein kausales Kontinuum
von Zustaenden, das zeitlichen Charakter hat, aber unabhaengig ist vom
Zeitfluss der Komposition.
Dazu ein Beispiel:
Das physikalische Modell einer schwingenden Saite besteht
intern aus einer bestimmten Anzahl von Punkten, die ein Pseudokontinuum (eben
eine Saite) raepresentieren. Um ein sample Klang auszugeben, muss das ganze
Pseudokontinuum gemaess dem Algorithmus jedesmal durchgerechnet werden, es hat
in jedem Moment einen bestimmten Zustand, eine bestimmte Wellenform. Analog
dazu koennte man nun jeden beliebigen soundfile als Momentanzustand einer
schwingenden Saite definieren und dem iterativen Prozess einer freien
Schwingung ueberlassen. Nach den ersten paar Schritten wird kaum ein
Unterschied wahrnehmbar sein, aber nach einigen tausend Durchgaengen stellen
sich nach und nach zeitliche Verschiebungen und Echostrukturen ein. Die
Wellenform des soundfiles schwingt in einem metazeitlichen Prozess [@7].
Der experimentellen Arbeit sind hier keine Grenzen gesetzt.
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@1
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Guenther
Rabl: 4 Skizzen
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@2
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Guenther
Rabl: Eve
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@3
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Pierre Henry: Apokalypse
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@4
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Johannes Brahms: Variationen ueber ein Thema von Joseph
Haydn
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@5
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Guenther
Rabl: Steinbutt-Variationen
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@6
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Guenther
Rabl: Styx
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@7
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DD schwingender soundfile
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@8
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Gulda / Anders / Rabl: Performance
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