"STYX (in der antiken Mythologie ein Fluss an der Grenze zur Unterwelt)
bezeichnet hier einen Standpunkt, eine Grenze des Denkens und Empfindens,
von der aus die schillerndsten Klanggestalten, die aller Musiktheorie
spotten, ihrem Wesen nach erfassbar sind und dadurch einer musikalischen
Komposition zugänglich werden.
Aus fünf Grundklängen (Fragmenten von Aussenaufnahmen, denen
keinerlei symbolische oder anekdotische Bedeutung zukommt, die lediglich
Materialwert haben) sind Generationen von Klängen in je aufsteigender
und absteigender Linie abgeleitet - im ständigen Wechsel von elektronischer
Transformation und Gestaltung."
(liner notes der Erstveröffentlichung auf CD 1988)
In meiner vorhergehenden grösseren Arbeit ATEM (1981/82) hatte ich die seriellen Kompositionsverfahren auf die Spitze getrieben. Variationen von Reihen, die aus dem Klangmaterial selber abgeleitet sind, bestimmen alle Bereiche der Komposition - vor allem auch die sogenannten 'technischen' Parameter, die dadurch als musikalische verfügbar werden.
Bei dieser systematischen Arbeit geriet ich immer wieder in Klangbereiche, die etwas Besonderes an sich hatten. Im Schnittpunkt der elektronischen Transformationen zeigten sich Klangtypen, die eine Authentizität vermitteln, wie man das sonst nur von guten Aufnahmen kennt - mit dem Vorteil, dass sie auf nichts mehr ausserhalb ihrer selbst verweisen müssen ('Aufnahme von ...'). Das Erstaunliche dabei ist, dass sich diese Klanggestalten gegen die Methoden zu sträuben scheinen, mit deren Hilfe sie auffindbar sind. Mit serieller Komposition ist ihnen nicht beizukommen. Bei der Arbeit an ATEM habe ich sie daher weitgehend vermieden. (In meinen Aufzeichnungen von damals findet sich die Notiz: "Mit solchen Klängen kann man schlechterdings nicht komponieren - oder wenn, dann 24 Stunden Musik - traumschwer").
In STYX habe ich sie danach doch wieder aufgegriffen. Die Bedingung war, dass man sich auf ihr Eigenleben einlassen muss: Komponieren nicht länger als ein 'Ordnen von Tönen', sondern als eine Art Dramaturgie von Klanggestalten, die ihre eigene Geschichte erzählen. Damit schliesst sich mit STYX ein grosser Bogen zu meinen ersten Tonbandstücken (MUGL ENTSTEIGT).
Das wichtigste Gestaltungsprinzip dabei war die Metamorphose, oder technisch gesprochen: die elektronische Transformation. Obwohl es noch Jahre dauern sollte, bis ich einen Computer mit audio-output hatte, war es schon klar, dass man davon ungeahnte neue Bearbeitungsmethoden erwarten konnte. Die Vorfreude darauf (und entsprechende theoretischer Vorarbeit) spornte mich zu neuen Kombinationen bereits bekannter Verfahren an. Tatsächlich habe ich in dieser Arbeit einiges von dem vorweggenommen, das erst viel später, mit dem Aufkommen schneller Prozessoren allgemein verfügbar wurde - oft in stundenlangen Prozessen mit Tonbändern und einfachen, aber hochqualitativen elektronischen Geräten, die Georg Danczul nach meinen Vorstellungen gebaut hatte.
G.R.
Die Uraufführung von STYX in der Originalfassung (mit fotografischen Bildern von Renate Porstendorfer auf 4 Leinwänden) fand im Dezember 1985 im Palais Erzherzog Karl in Wien statt. Es folgten zwei weitere Aufführungen, eine im Konzerthaus Wien 1986 und eine in der Münchner Philharmonie 1987. Ab da wurde das Stück mehrmals in einer reduzierten Fassung mit nur einer Leinwand in Österreich und in Ungarn gezeigt.
Jüngste Aufführung im Dezember 2009 im Kuppelsaal der TU Wien.
Nachtrag „Material”
Selbst für Leute vom Fach ist es nicht immer begreiflich, was ich mit Klangmaterial meine. Ich sehe und verwende es tatsächlich als Material in einem handwerklichen Sinn. Dennoch stellt man mir immer wieder die Frage, ja was sind denn das für Aufnahmen, die da verarbeitet sind. Ich betone nocheinmal, dass sie keine anekdotische Bedeutung für die Dramaturgie haben. Es ist kein Hörspiel, es ist Musik. Aber ich mach auch kein Geheimnis daraus.
Here they are:
1) ein auf- und abfahrender Mähdrescher auf einem Feld
2) eine Autohupe
3) eine Feuersirene zu Mittag mit Kirchenglocken und Schwalben
4) eine Akkordstudie in Dritteltönen am Cello
5) eine Strassenszene mit Autos, Traktoren und spielenden Kindern
Mit Ausnahme der Aufnahme von dem Mähdrescher, die eine gute halbe Stunde dauert, sind diese Fragmente relativ kurz. Das Zwischenmaterial allerdings, all die elektronischen Transformationen und Entwicklungen aus diesem Ausgangsmaterial, bestand zuletzt in mehr als 50 Tonbändern, zusammengenommen etwa 30 Stunden an Klang.